Das Thema „offene Beziehung“ kam gefühlt aus heiterem Himmel aber mit geballter Kraft in mein Leben. Plötzlich waren Menschen um mich herum, die offene Beziehungen leben, plötzlich begegneten mir Artikel und Bücher zu diesem Thema und plötzlich gab es einen Mann, auf den ich Lust hatte, ohne meine Beziehung in Gefahr zu fühlen. Es überrollte mich förmlich innerhalb von 2-3 Wochen. Und das alles zwischen Verlobung und Hochzeit mit meinem Partner. Ich wollte es erst verdrängen, aber es drängte sich mir auf. Ich dachte, es würde meinen Partner verletzen, diese Gedanken überhaupt anzusprechen. Ich spürte meinen Glaubenssatz „Wer glücklich in seiner Beziehung ist, will keinen Sex mit Anderen!“. Meine Schlussfolgerung war dann, dass mit meiner Beziehung etwas nicht stimmt, wenn ich sie gern „öffnen“ würde. Trotzdem (und glücklicherweise) lies mich das Thema nicht los. Ich fing an zu lesen und mit Freunden in offenen Beziehungen darüber zu sprechen. Irgendwo habe ich gelesen, dass eine offene Beziehung keineswegs die Alternative zur Trennung sein sollte. Dass es viel mehr für wirklich stabile und auf tiefem Vertrauen basierende Beziehungen geeignet wäre. Nach und nach bröckelte mein Glaubenssatz.
Jeder kann kommen und gehen?
Ich erkannte für mich, dass mir vor allem die Bezeichnung „offene Beziehung“ nicht zusagt. Mit dem Begriff assoziiere ich, dass jeder kommen und gehen kann und jeder der kommt, ein gleichwertiger Teil der Beziehung ist. Wie eine Bar mit offener Tür. „Kommt ruhig rein, hier ist genug Platz.“ In meiner Vorstellung standen die Dazukommenden zwischen uns, zwischen mir und meinem Partner. Genau das wollte ich nicht und genau davor hatte ich auch Angst. Ich liebe meinen Partner über alles und ich liebe unsere tiefe, authentische und vertrauensvolle Beziehung. Das wollte ich auf keinen Fall aufs Spiel setzen. Das Lesen half mir, mich von dem Begriff zu lösen und meinen Fokus auf Fragen zu lenken, wie ich die Beziehung mit meinem Partner gestalten will. Und genau so habe ich auch die Gespräche mit ihm angefangen. Was lieben wir an unserer Beziehung? Welche Grenzen haben wir bewusst gesetzt, weil beim Überschreiten Verletzungen entstehen und welche Grenzen haben wir einfach dem gesellschaftlichen Konsens übernommen? Mit diesen Fragen kamen wir schnell zur sexuellen Exklusivität. So ist das halt, einer fragt „Willst du mit mir gehen?“ Und schon ist alles geklärt. Sex mit Anderen ist tabu. Im ersten Moment auch sehr praktisch, dass man nicht erst ausloten muss, was denn jetzt das „miteinander gehen“ bedeutet. Die Beziehung hat erstmal einen gewissen Rahmen, auf den man sich mit der Frage geeinigt hat.
Du willst auch mehr über deine Beziehung lernen und gemeinsame Werte entdecken? Dann probier jetzt Julinga aus – deine Spiele für Partnerschaftsentfaltung.
Den Rahmen selbst definieren
Und plötzlich wurde mir klar, dass ich genau diesen Rahmen selbst definieren möchte. Denn einerseits möchte ich gern mindestens ein halbes Jahrhundert mit meinem Partner verbringen und das soll nicht auf den Regeln basieren, die mal schnell mit „Willst du mit mir gehen?“ festgelegt wurden. Und außerdem ist Selbstbestimmung einer meiner höchsten Werte. Also warum in diesem wichtigen Bereich meines Lebens fremdbestimmt nach einem scheinbar gesellschaftlichen Konsens leben? Plötzlich schien es richtig absurd diesen Konsens, was eine Beziehung ausmacht, unkritisch, unüberlegt und stillschweigend übernommen zu haben. Also ran an die Fragen und überlegen, was wir wirklich wollen, was uns wirklich wichtig ist. Was macht unsere Beziehung eigentlich aus? Natürlich spielen gemeinsame sexuelle Erfahrungen eine große Rolle, aber außerdem sind uns das Gefühl tiefer Verbundenheit, die vertrauensvollen Gespräche, ein tiefes Interesse für einander, die Lust uns gemeinsam weiter zu entwickeln und offene, authentische Begegnungen super wichtig. Sex ist also bei weitem nicht alles, was unsere Beziehung von einer (auch noch so tiefen) Freundschaft unterscheidet.
Was sind die Werte, die wir gemeinsam leben wollen? Neben Lebensfreude, Beziehung auf Augenhöhe und Dankbarkeit stand auch immer wieder Treue weit oben auf den Listen unserer Gespräche. Aber Treue ist ja nicht das Gleiche wie sexuelle Exklusivität. Wir waren uns sehr schnell einig, dass wir eigentlich etwas Anderes meinen. Treue bedeutet für uns, den Anderen nie bloßzustellen, füreinander da zu sein, wenn eine/r Hilfe braucht, der Beziehung allgemein einen hohen Stellenwert zu geben und, dass wir für die Beziehung kämpfen würden, wenn’s mal unbequem wird, also nicht gleich die Sachen packen und weg sind. Wir merkten, dass Loyalität für uns der passendere Begriff ist.
Sich darüber auszutauschen macht für uns viel mehr Sinn als uns an dem Begriff „offene Beziehung“ aufzuhängen. Über unsere Werte sprechen ergibt so unglaublich verbindende Gespräche und hilft uns immer wieder uns auch nach 8 Jahren Beziehung ein Stück näher kennenzulernen. Aus dieser Erfahrung heraus habe ich das Spiel „Kompass durch dick und dünn“ entwickelt. Damit findet ihr eure eigenen und eure gemeinsamen Werte heraus und könnt euch mit diesem Kompass auch schwierigen Themen wie „offene Beziehung“ nähern.
Kommentar schreiben